Das minoische
Kreta
Bevor ich mich dem eigentlichen Untersuchungsobjekt zuwende, sind einige
Bemerkungen notwendig. Wird im weiteren Verlauf von einem Palast geredet,
ist dieser zuerst zu definieren. Das ausschlaggebende Merkmal für
eine Bezeichnung als Palast ist ein umbauter Zentralhof. Bisher zählen
dazu die Paläste von Knossos, Phaistos, Mallia und Kato Zakros.
Bei der Betrachtung des Stadtbegriffs auf Kreta können nicht alle
bereits ergrabenen Siedlungsplätze berücksichtigt werden.
Die getroffene Auswahl wird im folgenden kurz begründet.
Knossos
Knossos ist unter allen Palästen auf Kreta mit Abstand der größte
und bedeutendste. Die Siedlung, und um die geht es hier, ist nur in
Stichproben ergraben. Eine Aussage, Stadt oder nicht, kann hier nur
mit Vermutungen und stillschweigenden Unterstellungen getroffen werden.
Auf Knossos soll also nur marginal eingegangen werden.
Phaistos
Für Phaistos gilt wie für Knossos, dass es sich zwar um einen
bedeutenden Palast handelt, die dazugehörige Siedlung aber nicht
ergraben ist. Allenfalls die Existenz einer solchen kann als gesichert
gelten. Im Bereich westlich des Palastes sind entsprechende Strukturen
gefunden worden, auch wenn die Eigentumsverhältnisse weitergehende
Grabungen bisher verhindert haben. Auch Phaistos hilft bei dieser Diskussion
nicht weiter.
Palaiskastro
In Palaiskastro fanden die Ausgräber eine ausgedehnte Siedlung.
Bisher gibt es jedoch keinen Palast. Das würde Palaiskastro zum
Idealtyp einer bronzezeitlichen Stadt machen. Der bisher ergrabene Teil
lässt aber ausgerechnet die wichtigsten Merkmale, die für
die Definition als Stadt unerlässlich sind, vermissen. So fehlt
ein größeres Gebäude, das als administrativer Bau interpretiert
werden kann und ein Markt. Davon abgesehen, kann man für diesen
Standort einige Mutmaßungen treffen. (Dazu vgl. Ausblick)
Kato
Zakros, Gournia und Mallia
Alle drei Plätze, Kato Zakros, Gournia und Mallia, sind für
unsere Diskussion interessant. Gournia hat das unbestrittene Privileg,
vollständig ergraben worden zu sein. Auch von Kato Zakros hat man
ein wohl realistisches Bild betreffs Größe und Situation.
In Malia gibt es, wie ich vermute, noch einiges zu entdecken. Schon
jetzt ist Mallia der vielleicht interessanteste Fall auf der Suche nach
einer minoischen Stadt.
Die
Villen
In unmittelbarer Nähe zu Knossos und Phaistos finden sich prächtige
Villen. Diese "kleine Paläste" werden gelegentlich als
Sommersitze gedeutet. Dabei ist der ''kleine Palast'' von Knossos nur
wenige hundert Meter vom ''großen Palast'' entfernt. Auch Haghia
Triada liegt in Laufnähe des Palastes von Phaistos. Die Rolle dieser
Villen ist, wie ich glaube, noch unklar. In Anbetracht der Lage erscheint
die Deutung als Sommersitz wenig plausibel.
Haghia Triada fehlt zu einer Interpretation als Palast nur der umbaute
Zentralhof. In seinen Ausmaßen kann es Haghia Triada beinahe mit
Kato Zakros aufnehmen. Angeschlossen sind erhebliche Lagerkapazitäten,
eine Agora und eine kleine Siedlung. Dieser Bereich datiert jedoch in
die Nachpalastzeit. Diese liegt außerhalb des Zeitrahmens. Im
mykenischen Bereich ist der Stadtbegriff gesondert zu betrachten. Dies
erklärt sich von selbst, betrachtet man die mykenischen Residenzen
in Mykene, Pylos und Tyrins. Die Villen, ganz besonders Haghia Triada,
verdienen eine eingehende Betrachtung, doch sind sie für den gesuchten
Stadtbegriff zunächst nicht hilfreich.
Bei der Interpretation der Paläste könnte dies anders sein.
Zu bedenken bleibt jedoch, dass Haghia Triada recht spät datiert
ist. Es könnte durchaus sein, dass diese Villa den Herrschern von
Phaistos im 16. Jahrhundert nach dem Bau des Neuen Palastes von Phaistos
als ''Zweitwohnsitz'' gedient hat. Den Grund dafür zu finden, ist
beim derzeitigen Stand des Wissens ein eher aussichtsloses Unterfangen.
Die Tatsache an sich bleibt interessant. Jedoch halte ich die beiden
Beispiele aus Knossos und Haghia Triada für nicht vergleichbar.
Haghia Triada ist eindeutig eine Klasse für sich. Den kleinen Palast
von Knossos sehe ich eher in Bezug auf Mallia. Dort findet sich ein
durchaus vergleichbares Beispiel. Gebäude A ist auf den ersten
Blick ''nur'' ein großes und prächtiges Haus, doch fanden
sich in Innern Verwaltungstexte, die es zu einem administrativen Zentrum
außerhalb des eigentlichen Palastes machen. Auf die Funktion dieses
Gebäudes wird zurückzukommen sein.
Kato
Zakros
Kato Zakros liegt im äußersten Osten Kretas. Der Ort liegt
in einer verhältnismäßig kleinen Bucht weitab jeder
größeren Ortschaft. Die Bucht ist von hohen Bergen umgeben.
Der moderne Ort Zakros (oben) und Kato Zakros (kato=unten) sind durch
eine asphaltierte Straße verbunden. Diese schlängelt sich
außen um einen Berg herum. Direkt verbunden werden beide Orte
durch eine Schlucht. Den Namen ''Todestal'' verdankt sie den dort gefundenen
Gräbern. Die Schlucht ist auch für ungeübte Kletterer
zu meistern. Man kann wohl davon ausgehen, dass dieses "Todestal"
die "alte Straße" darstellt.
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Abb.
1) Blick auf den Palast von der Siedlung aus.
Deutlich zu sehen der umbaute Zentralhof. |
Kato
Zakros ist etwas Besonderes. Der Palast liegt praktisch in unmittelbarer
Nähe des Meeres. Das mag seine Ursache in der negativen Strandverschiebung
haben, sicherlich liegt es aber auch am fehlenden Platz. Die Bucht dürfte
zu jeder Jahreszeit sehr geschützt sein, bietet also gute Voraussetzungen
für einen Hafen. Eine Landzunge, die eigentlich typisch ist für
minoische Häfen, sucht man vergebens. Es ist möglich, dass
diese in Anbetracht der Lage nicht notwendig war. Der Palast und die
dazugehörende Siedlung liegen sehr dicht beieinander. Beinahe gehen
sie ineinander über, und es ist nicht einfach, den Punkt zu finden,
wo der Palast aufhört und wo die ihn umgebenden Häuser beginnen.
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Abb.
2) Blick auf den Zentralhof |
Und
noch etwas ist anders in Kato Zakros: Man sieht von der Siedlung hinunter
auf den Palast. Abbildung 1 zeigt diesen sehr ungewöhnlichen Umstand
recht deutlich. Alle anderen Paläste liegen erhöht auf einer
Hügelkuppe . Das gilt für Knossos und Phaistos ebenso wie
für Mallia. Geht man davon aus, dass die in Chania ergrabene Parzelle
in der od. Kanevarou Teil eines Palastes war, lag dieser ebenfalls direkt
am Meer, jedoch erhöht. Die Parzelle könnte natürlich
ebenso gut Teil einer Villa sein. Klar ist nur, dass es sich nicht um
ein einfaches Gebäude handelt. Treppen und Türbasen sind hochwertiger
Ausführung, die Räume sind relativ groß.
Die
Definition als Palast verdankt Kato Zakros dem umbauten Zentralhof.
Um diesen Hof gruppieren sich die üblichen Vorratsräume, Werkstätten
und weitere Räume, deren Funktion kultisch oder repräsentativ
gewesen sein mag. Insgesamt ist der Palast sehr klein. An seiner Einordnung
ändert das nichts. Er weist alle für eine Definition als Palast
notwendigen Kriterien auf. Ungewöhnlich sind die beiden Strukturen
auf dem Zentralhof.
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Abb. 3) Gepflasterte
Straßen erschließen die Siedlung von Kato Zakros. |
Die
Interpretation ist schwierig, doch könnten sie mit dem sog. Stierspiel
zusammenhängen. An der Existenz eines solchen gibt es wenig Zweifel
; wo es abgehalten wurde, ist aber umstritten. In Kato Zakros spricht
einiges dafür, dass es sich auf dem Zentralhof selbst abspielte.
Sowohl die "Tränke" als auch die im Abbildung 2 deutlich
zu erkennende "Bank" erinnern an die eine oder andere Darstellung
des Stierspiels. In Knossos würde sich dagegen auch die große
Straße anbieten, die sich vom Palast aus im Nordwesten befindet.
Sie beginnt am „Theaterplatz“ in der Nähe des Nordeingangs.
Entlang der Straße befinden sich Strukturen, die an Zuschauerränge
erinnern. Die Stiere könnten
also die Straße heruntergelaufen sein. Die Gefahr besteht natürlich,
dass diese Einordnung oder diese Vermutung nur deshalb so naheliegend
erscheint, weil wir das "moderne" Stierspiel in Pamplona vor
Augen haben. So normal diese Assoziation ist, gibt sie doch keinen guten
Vergleich. Die ikonographischen Zeugnisse sprechen recht eindeutig dagegen.
Direkt
an den Palast schließt sich die Siedlung an. Sie ist durchzogen
von breiten Straßen, die offenbar auch so etwas wie Kanalisation
hatte. Ein schmaler Kanal entlang der Straße erinnert zumindest
an eine derartige Einrichtung. Die Straßen (vgl. Abb. 3) sind
gepflastert. Sie erschließen die einzelnen Gebäude der Siedlung,
die vom Palast kaum zu trennen ist. Der Plan Abb. 4 zeigt dies anschaulich.
Nicht eindeutig zuzuordnende Gebäude sind im Plan Abb. 4 grau gekennzeichnet.
Der Palast ist offenbar integraler Bestandteil der Siedlung. So deutlich
ist dies nur in Kato Zakros der Fall. Doch auch in Mallia schließt
sich die Siedlung relativ dicht an den Palast an. Beide sind hier aber
eindeutig zu trennen. In Knossos und Phaistos scheint es ähnlich
zu sein.
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Abb
4: Übersichtsplan des Palastes von Kato Zakros und der Siedlung
(aus: Frühe Stadtkulturen, Seite 68)
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Die Umstände in Kato Zakros sind für die Spekulationen hinsichtlich
der Regierung oder Verwaltung Kretas in minoischer Zeit ausgesprochen
hilfreich. Allein der Fall dieses Palastes beweist, dass es sich nicht
um ein restriktives System gehandelt haben kann. Ein restriktiv herrschender
Adel, der sich eine Residenz errichtet, wird auf Distanz zum einfachen
Volk Wert legen. Allein schon aus einem Schutzbedürfnis heraus,
würde er seinen Palast befestigen. Der archäologische Befund
in Kato Zakros ist der einer Konsensgesellschaft. Der Palast erscheint
eher ein administratives Zentrum, denn Sitz einer Herrscheraristokratie
zu sein. Selbst bei einer Interpretation als „Rathaus“ ist
die Situation in Kato Zakros ungewöhnlich. Hier einen Herrscher
im Sinne eines Monarchen anzunehmen, halte ich für unmöglich.
Gournia
Östlich von Mallia liegt auf einer kleinen Bergkuppe Gournia. Umgeben
von Hügelketten öffnet sich um die Siedlung ein fruchtbares
Tal. Auch Gournia hat eine gewisse Sonderstellung inne. Der Platz scheint
vollständig ergraben. Aus Platzgründen soll Gournia trotzdem
nur kurz behandelt werden.
Der Grundriss von Gournia erscheint kompakt mit einer klaren Außengrenze.
Einzelne "Wohn- und Arbeitsviertel" erschließen schmale
Straßen. Diese verbreitern sich an ausgewählten Stellen.
Dort böten sie Raum z.B. für kleinere Versammlungen und Prozessionen.
Auffällig ist ein großes, fast palatiales Gebäude. Ein
umbauter Zentralhof fehlt. Es ist per Definition kein Palast, es könnte
sich jedoch um eine Art Vor- oder Zwischenstufe handeln. Wieder fehlen
vergleichbare Befunde aus anderen Grabungen. Was nahe liegt, ist eine
Deutung als öffentliches oder Verwaltungsgebäude. Es sind
größere Lagerkapazitäten vorhanden. Auch ein gewisser
Wille zur Repräsentation ist zu erkennen. An das Gebäude schließt
sich ein Hof oder ein Platz an. Hier wäre Raum für einen Markt
oder öffentliche Versammlungen.
Soweit der positive Befund. Was leicht zu übersehen ist, wenn man
nur den Plan der Ausgrabung studiert: Gournia ist sehr klein. Ich glaube
nicht, dass wir genug Anhaltspunkte haben, um Einwohnerzahlen zu schätzen,
doch sehr viele können es nicht gewesen sein. Die Frage ist zu
beantworten, ob Gournia vielleicht die gesuchte "Nicht-Stadt"
ist. Diese wurde für die Stadtdefinition ebenfalls als unerlässlich
erkannt. In Anbetracht der gefundenen Strukturen fällt es zugegeben
schwer.
Mallia
In Mallia befindet sich der drittgrößte der minoischen Paläste.
Mallia ist für die Suche nach der minoischen Stadt von besonderem
Interesse. Der Grund liegt auf der Hand. Auch in Mallia konzentrierten
sich die Grabungen zunächst auf den Palast, doch ist hier im Gegensatz
zu Knossos und Phaistos auch die angrenzende Siedlung in weiten Teilen
ergraben. Wie groß diese war, ist wohl noch nicht abschließend
zu sagen. Schon der ergrabene Teil brachte sehr interessante Strukturen
zu Tage. Mallia gliedert sich in verschiedene Quartiere (vgl. dazu Abb.
8 und Abb. 9) Exemplarisch soll Quartier Mü untersucht werden.
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Pfostenlöcher
entlang des Zentralhof könnten mobile Zäune aufgenommen
haben, die z.B. während des Stierspiels zum Schutz der Zuschauer
aufgestellt wurden.
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Es
ist sehr gut ergraben und gestattet einige Einsicht in die Bauweise
der Minoer. Sehr gut zu erkennen ist z.B. die Kellerkonstruktion minoischer
Häuser. Der Konservierungszustand ist vorbildlich. Im Nordteil
von Quartier Mü befinden sich das Ateliers de sceaux (Siegelmacher),
Atelier de potier (Töpferwerkstatt) und das Atelier
de fondeur (Metallgießer). Die Gebäude sind multifunktional,
beherbergen also Werkstatt-, Lager- und Wohnräume. Der Vorraum
mag als Verkaufsraum gedient haben. Zum Teil sind die Räume halb
im Untergeschoss.
Die Gebäude waren mehrgeschossig. Am Beispiel der Töpferwerkstatt
zeigt sich folgendes Bild. Die Lagerräume scheinen sich im Unterteil
des Gebäudes konzentriert zu haben. Hier wurden v.a. Vorratsgefäße
gefunden. Im oberen Teil fanden sich Werkzeuge, Ton- und Steingefäße,
Metall und Steingegenstände, sowie sonstige Funde. Die Rekonstruktion
zeigt, wie das Untergeschoss teilweise unter das Niveaus des Bodens
verschwindet. Auf den Dächern werden Terrassen vermutet. In Anbetracht
der aufwärtsführenden Treppen kann man von deren Existenz
relativ sicher ausgehen. Wenn auch nicht so eindeutig, zeigt sich auch
am Atelier de fondeur dasselbe Bild.
Im
Südteil des Quartier Mü findet sich ein weiteres Gebäude
mit Funden, die auf handwerkliche Tätigkeit hinweisen. Ungewöhnlich
an diesem Atelier Sud ist v.a. der Grundriss. Während das benachbarte
Haus A ziemlich genau einer Nord-Südausrichtung folgt, orientiert
sich das Atelier Sud etwas mehr östlich. Da sich das Gebäude
an Haus A anfügt, entsteht ein trapezoider Grundriss. Das gesamte
Quartier Mü ist nicht sehr homogen in der Ausrichtung der Gebäude.
innerhalb des Quartier Mü finden sich wichtige Strukturen, die
für eine Definition als Stadt als unerlässlich erkannt wurden.
Nicht nur gibt es Wohn- und Arbeitsräume in ansprechender Menge,
es scheint eine Art öffentliches Gebäude zu existieren. Hier
wurden Verwaltungstexte gefunden. Das ungewöhnliche daran: Es ist
die einzige Gelegenheit, dass Linear A-Tafeln außerhalb eines
Palastes auftauchten.
Es ist zu vermuten, dass es das auch an anderen Plätzen gab, zu
beweisen ist es nicht. Ein Grund könnte auch sein, dass während
Renovierungsarbeiten am Palast dieses Gebäude zeitweise dessen
administrative Aufgaben übernahm. Auch hier kann man nur Mutmaßungen
anstellen. Im Grunde kann man über den Fund gar nicht so glücklich
sein. Schließlich fällt er sehr aus dem Rahmen und hilft
beim Aufstellen eines Modells nicht wirklich weiter.
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Blick
auf den Palast von Mallia (aus: Guide de Malia, Pl. 1, Abb. 2) |
Die einzelnen Quartiere (die nicht alle gleichzeitig datieren) sind
durch Straßen mit dem Palast verbunden. In seiner unmittelbarer
Nachbarschaft existiert eine Struktur, die sich als Markt definieren
lassen würde. Damit haben wir in Mallia mehr, als an allen anderen
untersuchten Plätzen. Die Stadtdefinition kann für das minoische
Kreta nur über einen Vergleich stattfinden. Mallia bietet sich
an. An Mallia kann gemessen werden. Das Problem liegt jedoch auf der
Hand: Mallia ist nicht typisch. Ohne Haus A mit seinen Verwaltungstexten,
wäre die Definition klarer. Doch ist das für einen Idealtyp
nicht ungewöhnlich. Idealtypen im Sinne Max Webers beschreiben
ja gerade den nicht idealen Zustand, dem sich die tatsächlich existierenden
Beispiele höchstens nähern können.
Die "Minoische Stadt"
Die "Beweisaufnahme" soll hier abgeschlossen und die Indizien
zusammengefasst werden. Was unterscheidet die Siedlungen im minoischen
Kreta? Mehrere Antworten sind hier möglich. Ein ganz zentraler
Punkt ist jedoch offensichtlich. Es gibt Siedlungen mit Palästen
und es gibt welche ohne. Nachdem einige notwendige Kriterien (Markt,
Straßen, Geschlossenheit, Größe, Verwaltung, diverses
und spezialisiertes Handwerk/ Dienstleistungen) gefunden wurden, könnte
man es sich leicht machen und hier das hinreichende Kriterium ansetzen.
Sind Mallia und Kato Zakros auch nur halbwegs repräsentativ, erfüllen
Siedlungen mit Palästen die angesetzten Kriterien für eine
Stadt. Was macht man jedoch mit einer Siedlung wie Gournia? Einem Palastkriterium
folgend, fiele es heraus. Das wird dem archäologischen Befund jedoch
nicht ganz gerecht. Salopp gesagt, bereitet es ein wenig Zahnschmerzen.
Das Modell bedarf also noch einer Verfeinerung. Wie mir scheint kommt
ein hilfreicher Hinweis aus der Geographie.
Das Zentrale Orte-Modell von W. Christaller
1933 publizierte der deutsche Geograph Walter Christaller sein Werk
"Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische
Untersuchung über die Gesetzmäßigkeiten der Verbreitung
und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen."
Er betrachtete hier u.a. die Zentralität bzw. den Bedeutungsüberschuss
von Siedlungen im Sinne von Diensten, die nur die Stadtbevölkerung
selbst betreffen und Diensten, die darüber hinausgehen, also einen
überregionalen Charakter haben. Je höher nun die Zentralität
der Siedlung, desto größer die Anzahl von Dienstleistungen
pro Bewohner.
Die Idee war: Je seltener ein Gut, desto wahrscheinlicher ist es, dass
jemand auch größere Distanzen zurücklegt, um es zu bekommen.
Güter dieser hohen Ordnung werden also wahrscheinlich nur an Orten
mit einer hohen Zentralität angeboten. Im hier relevanten Sinne
gesprochen also: Orte mit hoher Zentralität kann man an ihrem Angebot
an "Dienstleistungen" erkennen. Dieses hier stark gekürzte
und insgesamt wesentlich komplexere Modell wurde sowohl in den USA als
auch in Deutschland lange für strukturpolitische Entscheidungen
herangezogen.
Später wurde das Modell kritisiert. Es war zu starr, und einige
Annahmen erschienen etwas realitätsfern. V.a. schloss es Bevölkerungsbewegungen
aus, was aber die Voraussetzung für das Entstehen neuer Städte
war. Es entsprach nicht mehr den Anforderungen der Zeit.
Das Christaller-Modell regte andere Untersuchungen auf Meso- und Mikroebene
an. Boustedt führte nach 1950 empirische Untersuchungen von Städten
und deren Institutionen durch und der Zentralausschuss für deutsche
Landeskunde untersuchte zusammen mit geographischen Hochschulinstituten
und dem Institut für Landeskunde die Inanspruchnahme zentraler
Güter und Dienstleistungen. Ein Ergebnis dieser Untersuchungen
war, dass eine Art Rangliste für städtische Zentren erarbeitet
wurde, der dann konkrete Städte zugeordnet werden konnten. Es wurden
vier Hauptstufen unterschieden:
- Zentrale
Orte unterster Stufe dienen zur Deckung allgemeiner täglicher
(kurzfristiger) Bedürfnisse.
- Zentrale
Orte mittlerer Stufe decken den allgemeinen periodischen und normalen
gehobenen Bedarf.
- Zentrale
Orte höherer Stufe dienen zur Versorgung mit Gütern des
allgemeinen episodischen und des spezifischen Bedarfs.
- Zentrale
Orte der höchsten Stufe sind überregionale Verwaltungs-,
Wirtschafts- und Kulturzentren.
Eine solche Einteilung in Kategorien scheint auch für das minoische
Kreta sinnvoll. Ohne hier scharfe Kriterien aufstellen zu wollen, ist
es vorstellbar die "minoische Stadt" über diesen Weg
zu fassen. Sollte es ein zentralistisches Kreta gegeben haben, wäre
Knossos sicher das Zentrum höchster Ordnung. Beim jetzigen Stand
des Wissens scheint es mir angebrachter, die vier Palastzentren als
Zentren höchster Ordnung zu verstehen.
Strukturen in der Größe und mit den Einrichtungen, wie sie
in Gournia zu finden sind, gehören in eine andere, niedrigere Kategorie.
Diese Einteilung umgeht den Stadtbegriff und ist trotzdem aussagekräftig.
Ohne neue Quellen ist eine grundlegende Aussage über die Rechtmäßigkeit
des Stadtbegriff im minoischen Kreta nicht zu geben. Gebraucht man statt
dessen Ober-, Mittel- und Unterzentrum, kann man Aussagen treffen, ohne
zu sehr zu spekulieren und sich in modernes Denken zu verstricken. Eine
genaue Zuweisung der Orte in der Hierarchie ist Aufgabe einer eigenen
Untersuchung und soll hier nicht angestellt werden.