Ausblick
Wenig ist beim vollständigen Fehlen von Quellen sicher zu belegen,
es ist schon schwierig genug, wenn wir entsprechende Quellen haben.
Wie der Fall Rom zeigt, verwirren schriftliche Quellen gelegentlich
mehr, als sie erhellen. Obwohl die Quellenlage für Rom also recht
günstig ist, muss man konstatieren, dass der archäologische
Befund nicht mit den in schriftlichen Zeugnissen geschilderten Geschehnissen
in Einklang zu bringen ist. Gerade für die Zeit der Königsherrschaft
ist einzuräumen, dass wir noch nicht wissen, wie diese Überlieferung
zustande gekommen ist. Nur einmal ein Beispiel: Die aristokratischen
gentes hatten kaum etwas über die Königszeit
in Rom
zu sagen. So glaubten die Valerii: "dass sie mit Titus Tatius
vom Sabinerland nach Rom gekommen seien, aber sie hatten ihren ersten
großen öffentlichen Auftritt erst bei der Gründung der
Republik, d.h. mit dem Konsulat des P. Valerius Poplicola."
Zu Kreta gibt es keine historiographischen Quellen. Auch bei Chroniken,
Königslisten oder Lokalgeschichte sieht es nicht besser aus. Die
Hieroglyphenschrift entzieht Übersetzungsversuchen ebenso wie das
Linear A. Selbst wenn es eine sichere Übersetzung gäbe, eine
große Hilfe wäre sie wohl nicht. Bei den meisten Texten handelt
es sich vermutlich um Wirtschaftstexte. Die können durchaus bei
der Entschlüsselung gesellschaftlicher Fragen helfen, allerdings
gibt es hier enge Grenzen. Trotzdem haben wir Informationen zu Kreta.
Die Quellen dieser Informationen sind aber relativ jung. Zeitlich am
nächsten steht noch Homer, doch auch zwischen Homer und der Nachpalastzeit
liegen mindestens 500 Jahre.
Interessant ist nun, dass es zu Kreta zwei sehr unterschiedliche Überlieferungen
gibt. Zum einen berichtet die Legende vom weisen gütigen Minos,
der sich alle 9 Jahre mit Zeus trifft, um Gesetze zu besprechen. Daneben
gibt es aber auch die Mär vom verschlagenen und grausamen Tyrann,
der alle 9 Jahre 7 Jünglinge und 7 Jungfrauen fordert, die er dem
Minotaurus zum Fraße vorwirft. Dieser eigenartige Doppelstrang
in der Überlieferung fiel schon den antiken Autoren auf.
Ein anderes interessantes Faktum: Die Religion der späteren Griechen
ist sehr eng mit Kreta verbunden, stammt doch ihr höchster Gott
Zeus von der Insel. Fast scheint es, als fehle für eine Erklärung
des Zusammenhangs noch so etwas wie ein fehlendes Glied. Für das
minoische Kreta gibt es de facto keine verwertbaren Schriftquellen.
Anhand des archäologischen Befundes soll hier als Nachtrag noch
etwas spekuliert werden. Schließlich bedarf es keiner Prophetie,
um zu vermuten, dass es auf Kreta noch einiges zu entdecken gibt.
Beginnen möchte ich in Palaiskastro. Schon der ergrabene Teil ist
verhältnismäßig groß. Im allgemeinen wird vermutet,
dass weitere Teile unterhalb der Meeresoberfläche liegen. Es ist
eine bekannte Tatsache, dass Kreta langsam abkippt und so im Osten Land
verliert. Palaiskastro liegt im äußersten Nordosten der Insel
und ist entsprechend stark von dieser negativen Strandverschiebung betroffen.
Das führte zu der Vermutung, dass weitere Teile der Siedlung (z.B.
ein administrativer Bau) im Meer versunken sein könnten.
Nach einer Besichtigung des Platzes glaube ich aber, dass die so dringend
gesuchten "großen" Strukturen landeinwärts zu suchen
sind. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es auch hier einen
Palast gab. Der Platz bietet dafür allerbeste Voraussetzungen.
Bei genauerer Betrachtung sind die geographischen Gegebenheiten hier
viel günstiger, als in Kato Zakros.
Überhaupt kann man vermuten, dass es auf Kreta deutlich mehr Paläste
gab, als wir bisher kennen. Die Einteilung Kretas in drei bzw. vier
Landschaften, wie man sie gelegentlich lesen konnte, spiegelt wohl kaum
die Realität in der Bronzezeit wieder. Wenn sich Kreta in vier
"Verwaltungsbezirke" gegliedert hätte, ist nicht einzusehen,
wieso in großer Nähe zu Knossos sich der Palast von Mallia
etablieren konnte und warum dies in ansprechender Distanz und bei besten
geographischen Voraussetzungen, z.B. in der Gegend von Sitia, im Bereich
des antiken Kydonia oder in der Gegend um Agios Nikolaos nicht möglich
gewesen sein soll.
Das Argument, Kreta könne keine für die Epoche "exotische"
Form der Regierung gehabt haben, da diese in ägyptischen Quellen
aufgetaucht wäre, scheint mir nicht so zwingend. Dass das große
Ägypten für den kleinen Handelspartner Kreta genügend
Interesse aufgebracht haben soll, ethnographische oder andersgeartete
Untersuchungen zu führen, halte ich für Spekulation. Die belegten
Kontakte datieren zudem aus der Hyksoszeit und gelten, selbst was die
Informationen zu Ägypten betrifft, als unsicher.
Und wie exotisch ein System auf breiter Basis im Sinne z.B. einer Partizipation
der Bürger ist, müsste überhaupt noch untersucht werden.
Für Ägypten mag man es ausschließen, in Mesopotamien
sieht die Sache etwas anders aus. Zitiert seien hierzu E. C. Stone und
P. Zimansky: "Bislang haben Archäologen gewöhnlich
Indizien einer Zentralisierung besonders hervorgehoben. Doch ein genauerer
Blick auf ihre Argumentation und neuere Funde unserer Grabungsstätte
Maschkan-schapir offenbart, dass diese Ansicht revidiert werden muss.
Bei den früheren Ausgrabungen in Mesopotamien hat man sich vor
allem auf Tempel und Paläste als die Sitze von geistiger Autorität,
Macht und Reichtum konzentriert, und unter einem ähnlich engem
Blickwinkel wurde dann die Struktur der Gesellschaft rekonstruiert,
die diese Bauten errichtete. Die schon wegen ihrer einstigen Größe
bevorzug[ten] Monumente, die hohen Status bestimmter Gruppen erweisen,
haben jedoch davon abgelenkt, dass die mesopotamischen Schriftquellen
keine deutlichen verschiedenen sozialen Klassen verzeichnen, sehr wohl
aber die Bedeutung von allgemeinen Versammlungen für Entscheidungen
für die gesamte Gemeinschaft."
(E.
C. Stone, P. Zimansky: Die innere Organisation einer mesopotamischen
Stadt, in: Frühe Stadtkulturen, S. 27/28)
Betrachtet man die bisher ergrabenen Teile des Puzzles und ergänzt
sie durch Bausteine, die man sicher vermuten kann (z.B. einen Palast
in Kydonia), ergibt sich ein wie ich finde interessantes Bild. Ein kleiner
Exkurs soll das verdeutlichen.
Im
12. Jahrhundert nach Christus schlossen sich entlang der Ostsee (und
bis weit hinein ins Binnenland) verschiedene Städte zu einem Bund
zusammen - der Hanse. War es zunächst die deutschen Hanse, wurde
der Zusammenschluss erweitert und 1358 als "Bund van der düdeschen
hanse" gegründet. Davon versprach man sich Vorteile beim
Handel, konnte man doch Regeln und Preise diktieren, schuf sich zugleich
aber auch einen Schutz gegen Piraten und anders geartete Gefahren.
Zentrum dieses Bundes war Lübeck. In mehr oder weniger regelmäßigen
Abständen trafen sich die Führer der einzelnen Hansestädte
und besprachen das weitere Vorgehen. Trotz mancher Gemeinsamkeiten resultierend
aus dem Zusammenschluss in diesem Bund, behielten die einzelnen Hansestädte
ihre Individualität. So existierte keine Verfassung in diesem lockeren
Bund, dem zeitweise über 200 Städte angehörten. Landschaftlich
war die Hanse in Quartiere gegliedert. Führend war, wie erwähnt,
das wendische Quartier mit Lübeck. Dass man sich hier auch architektonische
oder strukturelle Anregungen holte, war nicht ausgeschlossen.
Ich kann den Exkurs abbrechen. Es ist klar, was gemeint ist. Kreta ist
schwer zu regieren. Das galt damals sicher schon genauso wie heute.
Generationen von Eroberern und Besatzern haben sich blutige Nasen geholt,
bei dem Versuch Kreta eine straffe Administration überzustülpen.
Die Topographie Kretas ist geradezu prädestiniert für die
Herausbildung einzelner, relativ kleiner und unabhängiger Zentren.
Es mag Argumente dagegen geben, doch gebe ich zu bedenken, wie ungewöhnlich
die Minoer am Ende doch waren.
Pax Minoica, Matriarchat, Thalassokratie, ... was sagt man den Minoern
nicht alles nach. Und wie Paul Faure (Faure, Kreta - Das Leben im
Reich des Minos, Stuttgart 1983) recht überzeugend gezeigt
hat, ist die Mär vom Matriarchat nicht ganz umsonst auf Kreta angesiedelt.
Das Erbschaftsrecht hier unterscheidet sich in einem ganz zentralen
Punkt von anderen Fällen: Neben der nicht ungewöhnlichen,
herausragenden Stellung des Clans in Fragen des Besitzes ist die Erbfolge
innerhalb des Clans matrilinear.
So soll der Brauch der kollektiven, endogamen Heirat unter den Mitgliedern
zweier Stämme bis in hellenistische Zeit fortgedauert haben. Beide
Partner konnten die Ehe auflösen. Die Frau behielt dabei ihr Vermögen,
bzw. ihre Mitgift. Der Mann hatte in keinem Fall Verfügungsgewalt
über das Eigentum der Frau. (Ziemlich genau dieselben Regeln gelten
z.T. bis heute bei den nordafrikanischen Nomaden. Auch hier wird endogam
geheiratet und die Frau behält ihren Besitz und kann sich scheiden
lassen. Die Endogamie scheint also der Auslöser für die Regeln
des Besitzes zu sein. Das macht auch Sinn, da der Clan so sein Eigentum
schützt. Siehe dazu: Büsch,
Kyrene – ein Vorposten griechischer Kolonisation) Die Frau
konnte sogar einen Leibeigenen heiraten. Zog dieser auf das Gut der
Frau, waren die Kinder frei. Ihr Status richtete sich nach dem Ort der
Geburt.
Ein interessantes Detail ist, dass Minos in erster Linie als Sohn der
Prinzessin Europa galt, nicht als Adoptivsohn Asterions. Auch Herodot
kannte die matrilineare Tradition und lokalisierte sie: "Die
Lykier stammen ursprünglich aus Kreta .... Sitten haben sie teils
kretische, teils karische. Diesen einen Brauch aber haben sie ganz für
sich und stimmen da mit keinem andern Volk überein. Sie benennen
sich nach der Mutter und nicht nach dem Vater. Fragt jemand einen, wer
er ist, so wird er seine mütterliche Herkunft nennen und seiner
Mutter Mütter herzählen." (Herodot, Historien
1,173, München 1991) Scheinbar hatte Herodot gehört,
dass auf Kreta ein matrilineares Recht beheimatet war. Von dort stammen
nach seiner Aussage die erwähnten Lykier. Der Gründungsmythos
verbindet sie sogar mit Sarpedon, einem der Brüder des Minos.
Matrilinearität? - Das ist auf jeden Fall ziemlich exotisch. (Selbstverständlich
ist dieses Verfahren für die Bronzezeit nicht nachzuweisen, doch
Traditionen entstehen. Gerade die Kreter gelten Veränderungen gegenüber
als wenig aufgeschlossen.) Auch das vollständige Fehlen von Schutzmauern
und v.a. brauchbaren Waffen ist nicht nur für die Bronzezeit ein
äußerst ungewöhnliches Phänomen. So wenig man es
beweisen kann, ist es doch recht offensichtlich, dass das minoische
Kreta, bevor, wie wohl sicher anzunehmen ist, die Mykener um 1450 v.Chr.
die Macht übernahmen, einen sehr eigenen Weg gegangen ist.
Zusammenfassung
Eine sinnvolle und scharfe Stadtdefinition für das minoische Kreta
zu finden, gelingt nicht. Einige notwendige Kriterien wurden jedoch
erkannt. So scheinen eine gewisse Größe und bauliche Dichte
unverzichtbar. Typisch und notwendig für eine Stadt sind daneben
ein Markt, verschiedenes Handwerk, Infrastruktur und Verwaltung. Kreta
wurde als untypischer Sonderfall erkannt. Die fehlende Befestigung und
die Rolle der Paläste bleiben ein Rätsel.
Die Paläste könnten Ausdruck jenes "Bedeutungsüberschusses"
von Städten gegenüber dem Umland gewesen sein. Das Fehlen
einer Währung muss kein Hindernis sein für eine ausgeprägte,
auf Handel konzentrierte Wirtschaft. Von welcher Regierungsform man
für das minoische Kreta ausgehen muss, ist nicht sicher zu bestimmen.
Die Indizien sprechen gegen eine starke Zentralmacht und v.a. gegen
ein repressives System. Auch welche Rolle der Kult spielt, kann nur
vermutet werden. Sicher wird die Rolle im täglichen Leben nicht
unerheblich gewesen sein. Gegen eine starke politische Rolle der Religion
sprechen einige Indizien. Völlig auszuschließen ist es nicht.
Sucht man nach einer Kategorie, in die einzelne Siedlungen eingestuft
werden können, wurde die Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterzentren
vorgeschlagen. Der Begriff der "minoischen Stadt" ist nicht
eindeutig zu definieren. Daher sollte er vorerst abgelehnt werden. Einer
"Stadt" am nächsten kommt sicher Mallia. Verwendet man
Mallia als Maßstab, fallen jedoch alle anderen Siedlungsplätze
beim momentanen Grade der Erkenntnis heraus. So bleibt am Ende ein klares
Jein. Die Suche nach einer minoischen Stadt muss fortgesetzt
werden. Ob es gelingen kann, eine scharfe Definition für sie zu
finden, darf angesichts der Probleme die wir schon bei der Definition
moderner Städte haben, bezweifelt werden.